Der Honigmaler

Viele Mensche glauben, honigschleckende Bären gibt es nur in Märchen oder zweifelhaften Berichten alleinreisender Jäger oder Naturkundler. Man sollte sich aber auch nicht vorstellen, Bären würden sich den Honig aus einem Laden holen, aber ich will gern berichten, was ich selbst erlebt habe.

Vor vielen Jahren arbeitete ich in den riesigen Wäldern Russlands. Ein entfernter Verwandter hatte mir eine Arbeit besorgt, die mir ermöglichte, in recht kurzer Zeit einen Grundstock für mein erstes Motorrad zu verdienen. Ich war fast den ganzen Tag unterwegs und kehrte immer erst abends in meine kleine Blockhütte zurück. Anuschka, eine alte Frau aus dem Dorf in der Nähe, versorgte die Hütte und kochte mir täglich das Abendessen. Immer wenn ich kam, war das Essen schon fertig und stand auf dem Tisch. Anuschka war aber schon nach Haus gegangen, denn sie hatte Angst vor den wilden Tieren und wollte vor der Dunkelheit wieder im Dorf sein. Ja, vor den wilden Tieren musste man sich in Acht nehmen. Auch ich warnte Anuschkla jeden Tag: "Wirf die Abfälle nicht einfach aus dem Fenster! Sie locken Wölfe und Bären an."

Anuschka versprach mir, darauf zu achten. Abends fand ich auch keine Abfälle mehr vor dem Fenster, wie es noch in den ersten Tagen der Fall gewesen war. Alles schien sich einzuspielen; ich war zufrieden.

So kam ich abends wieder nach Hause, setzte mich in die Küche zum Essen und Trinken. Es stand nicht nur ein leckerer Braten auf dem Tisch, sondern die Dorfbewohner hatten reichlich Wein mitgeschickt. So war ich bald müde vom Essen und vom Wein. Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Ich stieg in die kleine Schlafkammer, ohne Licht zu machen. Ich tastete mich voran und wollte mich auf den gewohnten Platz legen, aber mein Bett war merkwürdig warm und schien besetzt! Ich fühlte etwas Warmes, Dickes, Weiches. Sollte etwa ... "Anuschka!" rief ich und rüttelte die Schlafende, "raus aus meinem Bett!"

Zur Antwort bekam ich ein Brummen, das kaum von Anuschka stammen konnte. So tastete ich mich in die Küche zurück, um ein Licht zu holen. Ich wollte wissen, wer sich in meinem Bett so breit machte. Schnell war ich zurück und leuchtete vorsichtig in die Kammer. Sofort sah ich, dass das Fenster offen stand - und in meinem Bett lag ein dicker brauner Bär!

Also doch nicht Anuschka! Sollte ich den Bären erschießen, oder musste ich gar erst Hilfe holen?

Zuerst zögerte ich noch, dann hatte ich selbst eine Idee. Gestern hatte ich von einem Bauern einen großen Eimer Honig bekommen - und den brauchte ich jetzt. Ich holte einen großen Pinsel aus meiner Werkzeugkiste und machte mich an die Arbeit. Ich ging hinaus und malte einen Honigklecks an den ersten Baum, der an der Hütte stand, nur wenige Meter von meinem Schlafzimmerfenster enfernt.

Dann ging ich ein Stückchen weiter in den Wald hinein und malte wieder einen Klecks an einen Baum, dann wieder ein paar Meter weiter ... und wieder ... und wieder. Schließlich hatte ich mich sehr weit von der Hütte entfernt und der Honig war verbraucht. Der Morgen graute. Gleich würde Anuschka kommen. Hoffentlich ging sie nicht in die Schlafkammer!

Schnell rannte ich zurück zur Hütte. Schließlich wollte ich beobachten, ob ich Erfolg gehabt hatte. Ich versteckte mich hinter einem nicht mit Honig bemalten Baum und wartete. Für den Fall der Fälle hielt ich krampfhaft mein geöffnetes Messer in der Hand, um mich verteidigen zu können, aber das war gar nicht nötig. Schon bald kam der Bär aus dem Fenster geklettert und folgte der Honigspur. Von jedem Baum schleckte er und entfernte sich Stück für Stück von der Hütte. Bald war er ganz verschwunden.

Anuschka hatte alles aus sicherer Entfernung mit angesehen und erzählte es den Leuten im Dorf. Seitdem hieß ich dort "der Honigmaler". Wie dieses Wort auf Russisch heißt, habe ich leider vergessen.

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